Das Kind weinte und schrie: „Papa, wo ist mein Papa?“ Immer wieder. Die Situation war so unerträglich, dass die Ermittler das Zimmer verlassen mussten. Sie hatten durchgehalten bei den Bildern, den Videos. Sie hatten die Chats gelesen und wussten, was der „Papa“ seiner Tochter jahrelang angetan hatte: widerlich. Aber jetzt die Tränen, die verzweifelten Schreie. Das war zu viel. Schreie eines Kindes, das seinen Vater liebt, weil es eben der Papa ist. „Papa, wo ist mein Papa?“
Dieser Moment – so unwirklich und doch so wahr – hat sich in die Erinnerung von Kriminaldirektor Michael Esser (55) eingebrannt. Als seine Leute ihm von der Szene erzählten, dachte er: „Was ist noch normal? Wird so ein Kind irgendwann verstehen, dass es auch ein Leben ohne Missbrauch gibt, oder gehört der ganze Schmutz für immer und ewig zu seinem Leben dazu, weil es schon als Baby gelernt hat, dass das Falsche das Richtige sei?“
Es ist eine Frage, die Esser, Leiter der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Berg, auch nach seinem Abschied noch beschäftigt. Anfang des Jahres wurde die BAO Berg mit Einsatzabschnitten in den §-2-Behörden aufgelöst. Diese Struktur ist sonst für Terroranschläge mit mehreren Ereignisorten vorgesehen. Eingesetzt wurde sie, als Beamtinnen und Beamte im Oktober 2019 den Missbrauchstäter Jörg L. (44) in Bergisch Gladbach festnahmen. Die Ermittler ahnten schnell: Das ist kein Einzeltäter. Und tatsächlich weitete sich der Fall zu einem der größten Missbrauchskomplexe in Deutschland und sogar über die Grenzen hinaus aus.
Es war der Anfang eines Umdenkens bei Ermittlungen in Sachen sexueller Kindesmissbrauch. Der Beginn einer Operation, bei der bis zu 350 Beamte in elf NRW-Kreispolizeibehörden mehr als zwei Jahre lang Hunderte Pädokriminelle jagten, zumeist Männer, die sich in der Schattenwelt des Internets bewegten, hinter Firewalls über Vorlieben plauderten, abartige Fotos und Videos hochluden, sich zum Sex verabredeten und Reizwäsche in Babygröße tauschten. Um die Täter zu enttarnen, die meist zur Familie gehören, wurden neue Wege ausprobiert, die in die Zukunft führen und an deren Entwicklung die „Landesarbeitsgruppe Kinderpornografie“ (LAG KiPo), die Landesarbeitsgruppe „IT-Asservate“ und die „Stabsstelle Kinderpornografie“ maßgeblich beteiligt waren:
- Staatsanwälte der Zentralen Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) und Ermittlerinnen und Ermittler der Kreispolizeibehörden arbeiten eng zusammen.
- Einheitliche Standards legen unter anderem fest, wie die Ermittler in den NRW-Polizeipräsidien zum Beispiel bei Festnahmen und Hausdurchsuchungen vorgehen.
- Modernste Technik sorgt dafür, dass die Fahnderinnen und Fahnder aller Kreispolizeibehörden untereinander und auch mit dem Landeskriminalamt vernetzt sind.
- Das Personal in den Kreispolizeibehörden wurde aufgestockt. Dort bearbeiten heute 413 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter KiPo-Fälle, mehr als dreimal so viel wie vor Bergisch Gladbach.
„In mehr als 40 Dienstjahren habe ich sehr viel Leid gesehen, aber was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der BAO Berg ertragen mussten, sprengt alle Maßstäbe“, bilanzierte Kölns Ex-Polizeipräsident Uwe Jacob auf einer Abschluss-Pressekonferenz. Insgesamt wurden 60 Wohnungen durchsucht und 4.700 Datenträger sichergestellt: Computer, Festplatten, Smartphones, USB-Sticks. 13 von 27 festgenommenen Männern und Frauen sind bereits zu insgesamt mehr als 80 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Aber das Wichtigste: 65 Kinder wurden befreit. Das jüngste war noch ein Säugling – erst drei Monate alt. „Doch trotz der Erfolge haben wir mit Abschreckung nicht viel erreicht. Sexueller Missbrauch findet in unserer Gesellschaft weiter statt“, so Jacob und kündigte an: „Auch wenn die BAO Berg formal zu Ende ist, geht die Jagd weiter.“
Es geht darum, in den endlosen Weiten des World Wide Web die Täterinnen und Täter zu finden, die technisch immer weiter aufrüsten und sogar von Datenschutzgesetzen geschützt werden. Während die BAO Berg mitten in den Ermittlungen steckte, bahnte sich in Münster das nächste Großverfahren an. Ermittlerinnen und Ermittler führten nach einem Hinweis auf Kinderpornografie eine Durchsuchung bei Adrian V. durch und fanden dabei unter anderem mehrere Server, auf denen riesige Mengen Kinderpornografie gespeichert waren. Die Ermittlungen führten bereits zu 59 Tatverdächtigen. Insgesamt konnten bisher 1,2 Petabyte Daten sichergestellt werden. Das ist eine Zahl mit 15 Nullen. Bei der Entschlüsselung der Datenträger wurde modernste Technik eingesetzt. Und liegen die Ergebnisse nach der anschließenden Auswertung vor, führen sie wiederum zu neuen Spuren und anderen Tätern, die mit weiteren Kriminellen vernetzt sind. „Eine Sisyphusarbeit“, sagt Kriminaloberrat Sven Schneider (47), der das Dezernat 43 „Zentrale Auswertungs- und Sammelstelle Kinderpornografie“ (ZASt) im Landeskriminalamt in Düsseldorf leitet. Im LKA NRW steht der Großrechner, auf dem bereits Tausende Gigabyte Daten gespeichert sind.
Der von der LAG KiPo erarbeitete neue KiPo-Workflow sah die landeszentrale Datenaufbereitung sowie die landeszentrale Bewertung der Bilder und Videos aller Verfahren der Kreispolizeibehörden in NRW im LKA vor. Allein bis November 2020 wurden so bereits vier Millionen Videos und 120 Millionen Fotos bewertet. Die landeszentrale Bewertung der Bilder und Videos aller NRW-Verfahren der Kreispolizeibehörden NRW ist jedoch allein aufgrund der Fallzahlensteigerung der vergangenen beiden Jahre nicht möglich. Beim Suchen und Finden hilft zwar mittlerweile auch künstliche Intelligenz. „Inzwischen sind wir bei der Polizei digital sehr weit vorn“, sagt Schneider. Aber auch: „Die Fallzahlen laufen uns davon. Wenn wir mithalten wollen, müssen wir die Prozesse umstellen und neu bewerten.“ Mal wieder.
Immer neue Technik. Immer mehr Daten. Als Schneider 2018 im LKA anfing, waren sie gerade mal zwölf Ermittler und die Digitalisierung war noch ein Randthema. Nur zwei Monate später nahmen Kolleginnen und Kollegen in Lügde den Dauercamper Andreas V. (57) fest. Antrieb, noch intensiver nach Missbrauchstätern zu jagen. Heute sichten bei der ZASt 19 Polizistinnen und Polizisten und 68 Regierungsangestellte jeden Tag kinderpornografische Bilder und Videodateien mit modernster Technik. „Es ist ein Kampf gegen Windmühlen“, seufzt Schneider.
Ein Grund: Seit 2020 leitet das BKA die sogenannten NCMEC-Daten an die Länder weiter. Das sind Verdächtige mit deutschen IP-Adressen, die eine US-amerikanische Organisation im Netz aufspürt. Knapp 140.000 Hinweise schickte sie allein in den vergangenen zwei Jahren nach Deutschland. Für 2022 werden weitere 120.000 erwartet. Jede vierte Fährte führt ins größte Bundesland: nach Nordrhein-Westfalen. Zurzeit kommen pro Woche 180 Meldungen rein.
30.000 Hinweise, hinter denen Fälle wie Lüdge, Bergisch Gladbach oder Münster stecken könnten. Der Gedanke ist erschreckend, die exponentielle Steigung der Zahlen erst recht. Aber eines ist tröstlich: Auch die Erfolge nehmen zu. Auf Schneiders Schreibtisch im vierten Stock an der Völklinger Straße in Düsseldorf liegt eine PKS-Statistik, auf der blaue Balken in die Höhe schießen: Sie zeigen die Zahl der Ermittlungsverfahren in Sachen Kinderpornografie, die sich von 2019 auf 2020 von 2.359 auf 4.776 mehr als verdoppelt haben (plus 104 Prozent) und im vergangenen Jahr noch einmal: Allein 2021 wurden 11.328 Fälle (plus 137 Prozent) ausgewertet.
Wie soll es weitergehen? Vier Wochen nach der Bilanz der BAO Berg in Köln hatte Schneider einen Termin im Innenministerium. Der Abschlussbericht „Auswertungs- und Ermittlungsbedarfe im Phänomenbereich Kinderpornografie“ wurde übergeben. Die gleichnamige Landesarbeitsgruppe wurde 2018 gegründet. Auf 38 Seiten und in elf Anlagen sind Erfolge und Ziele aufgelistet. Doch vieles ist schon wieder überholt. Deshalb gibt es eine neue Arbeitsgruppe, in der jetzt Polizisten, Staatsanwälte und Ministerialbeamte aus Bund und Ländern gemeinsam neue Standards entwickeln, wie man künftig die Massen der Daten bewältigt. Da geht es zum Beispiel um die Frage, ob in einer Chat-Gruppe mit 1.000 Menschen jeder zum Verdächtigen wird, weil ein Einzelner ein kinderpornografisches Foto gepostet hat. Oder ob man immer volles Programm fahren muss, weil ein Jugendlicher ein verbotenes Bild bei TikTok hochgeladen hat – mit Hausdurchsuchung, Spürhund und allem Pipapo. „Schwierige Themen. Denn wenn wir nicht mehr jeden Stein umdrehen, heißt das auch, dass es blinde Flecken geben wird, die wir aushalten müssen“, sagt Schneider. Im Herbst sollen die ersten Ergebnisse vorliegen.